Galizien und Bukowina

Die beiden benachbarten Regionen nördlich und östlich des Karpatenbogens kamen bis Mitte der 1770er Jahre zum Habsburger Reich und bildeten bis 1849 eine Verwaltungseinheit. Von 1863 bis 1918 war die Bukowina ein eigenes österreichisches Kronland. Die Habsburger unterstützten die Ansiedlung von Deutschen, wobei sie nur für Galizien mit besonderen Privilegien warben. Zahlreiche Südwestdeutsche entschlossen sich, hier einen neuen Anfang zu wagen. Der Modernisierungsprozess des Landes erschien vielen deutschen Handwerkern als gute Existenzgrundlage. Zudem wurde eine weitgehende religiöse Toleranz zugesichert, was viele Rumänen und Juden aus den benachbarten Regionen anzog.

Während die ethnischen Grenzen zwischen katholischen Deutschen und Polen in Galizien häufig verschwanden, entstand in den evangelischen Gemeinden ein Diaspora-Bewusstsein. Viele verarmte Galiziendeutsche wanderten gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die USA oder nach Preußen aus.

In der Bukowina lebten Rumänen, Ruthenen, Ungarn, Polen, Roma, Armenier, Huzulen, Lipowaner u.a.; keine Nationalität dominierte innerhalb dieser Völkervielfalt. Deutsche stellten lange Zeit gemeinsam mit Juden die kulturelle Elite.

Die Hauptstadt Czernowitz orientierte sich an Wien und erhielt früh Straßenbahn, elektrische Beleuchtung und ein prachtvolles Theater. Die 1875 gegründete Franz-Josefs-Universität war die östlichste deutschsprachige Hochschule Europas.

Bedeutend ist die deutsche Literatur jüdischer Autoren. Sie ist Teil einer kurzzeitigen deutsch-jüdischen Symbiose: Die Juden versprachen sich von der Hinwendung zur deutschen Sprache und Kultur gesellschaftlichen Aufstieg. Die österreichischen Behörden wiederum sahen in den deutsch geprägten Juden eine Stärkung des deutschen Bevölkerungsanteils und der eigenen Herrschaft.

Bernhardinerkloster in Lemberg
Bernhardinerkloster in Lemberg
Ausstellungswand zur Bukowina
Ausstellungswand zur Bukowina

Nationale und religiöse Toleranz und das Bildungswesen in der Bukowina

Schulbericht aus Lemberg
Schulbericht aus Lemberg

Die Bukowina zeichnete sich bis in das 20. Jahrhundert durch eine große religiöse und nationale Toleranz aus, ihre Bürger verband ein starker Regionalpatriotismus. So engagierten sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gemeinsam für die Unabhängigkeit von Galizien. 1849 waren sie erfolgreich – die Bukowina wurde eigenständiges Kronland des österreichischen Teils der Doppelmonarchie. Im „Bukowiner Ausgleich“ von 1910 konnten die zentrifugalen Kräfte noch einmal gebannt werden. Bis heute gilt er als vorbildlich für das Miteinander verschiedener Ethnien in einem Gemeinwesen.

Ein verbindendes Element stellte der Wunsch der bürgerlichen Schichten nach einem modernen Bildungssystem dar. Da es keine dominante Nationalität gab, wurden Rumänisch, Ruthenisch und Deutsch paritätisch unterrichtet – auch die Behörden waren dreisprachig besetzt. Dennoch war die deutsche Sprache, die meist auch die der Bukowiner Juden war, im Kulturbereich prägend. Dies ging auf das Engagement der städtischen Bürger zurück, die z.B. für alle Ethnien offene deutsche Lesezirkel einrichteten. Aus einer ähnlichen Initiative entstand 1875 die Universität Czernowitz.

Deutsch-Jüdische Kultur und Literatur in Galizien und in der Bukowina

Die Kultur der galizischen Hauptstadt Lemberg (polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw) ist das Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Völkermischung. Ein Bestandteil war die deutsche Sprache, die zwei Jahrhunderte hier dominierte, ehe sich das Polnische durchsetzte. Zur Verbreitung der deutschen Sprache in der multiethnisch und multikonfessionell geprägten Stadt trugen Deutsche als Drucker, Verleger, Buchhändler und Herausgeber von Zeitungen bei.

Die gebildeten jüdischen Kreise der Freien Stadt Brody z.B. wandten sich im 19. Jahrhundert der von Deutschland kommenden Aufklärung zu, was zur Gründung deutsch-jüdischer Schulen führte.

Von überregionaler Bedeutung ist die deutschsprachige Literatur der Bukowina, die von jüdischen Autoren wie Joseph Roth, Rose Ausländer, Paul Celan und Gregor von Rezzori geprägt war.

Ausstellungswand zu Galizien
Ausstellungswand zu Galizien
Mädchenhaus Bethlehem der Zöcklerschen Anstalten
Mädchenhaus Bethlehem der Zöcklerschen Anstalten
Spar- und Darlehenskasse Wiesenberg
Spar- und Darlehenskasse Wiesenberg

Innere Mission in Galizien

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebten noch etwa 60.000 Deutsche im österreichischen Galizien. Viele ehemalige Siedler waren in die Bukowina weiter gewandert oder hatten sich der allgemeinen Auswanderung nach Übersee angeschlossen. Während sich die deutschen Katholiken häufig mit den Polen zu gemeinsamen Gemeinden zusammengefunden hatten, wurden die Protestanten oft nur sporadisch kirchlich betreut.

Theodor Zöckler kam 1893 nach Stanislau und gründete dort zunächst ein Waisenhaus, später diverse andere Einrichtungen nach dem Vorbild der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld. Er engagierte sich gegen die weitere Abwanderung der evangelischen und gegen die Assimilation der katholischen Deutschen. So gehörte er zu den Gründern des „Bundes der christlichen Deutschen in Galizien“, der überkonfessionell organisiert war. Dieser Bund bekannte sich ausdrücklich zu Wien und lehnte alldeutsche Strömungen ab. Zu seinen Tätigkeiten gehörte die Vergabe von Krediten an Landwirte, für die ein Finanzierungssystem nach dem Vorbild der deutschen Raiffeisen-Banken aufgebaut wurde.