Inhalt der Charta

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist die erste gemeinsame Grundsatzerklärung der Vertriebenen in der Bundesrepublik. Ihre Ansprüche und Selbstverpflichtungen sind darin niedergelegt. Sowohl kurzfristige als auch langfristige Ziele finden Erwähnung.

Von der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird Gleichberechtigung eingefordert. Eine gerechte Verteilung der Kriegslasten und arbeitspolitische Maßnahmen sollen dazu Hilfestellung geben. 

Gleichzeitig verpflichteten sich die Vertriebenen zu einem harten und unermüdlichen Einsatz nicht nur für den Wiederaufbau Deutschlands sondern auch Europas.

Denn nur in einem geeinten, friedlichen und prosperierenden Europa sehen die Verfasser der Charta die Chance, dass ihr langfristiges Ziel - das "Recht auf die Heimat" - sich erfüllen kann. Mit der Charta nehmen die Vertriebenen Abstand von Krieg und Gewalt, d.h. von "Rache und Vergeltung". Der Text enthält keine territorialen Forderungen. Stattdessen werden naturrechtliche bzw. gottgegebene Grundrechte postuliert und an das christliche Gewissen der Völker appelliert, sich einer Lösung des Weltproblems Flucht und Vertreibung zu verpflichten.

Versammlung von rund 150.000 Heimatvertriebenen

Versammlung von rund 150.000 Heimatvertriebenen anlässlich der Proklamation der Charta der deutschen Heimatvertriebenen vor dem Stuttgarter Neuen Schloss am 6. August 1950.

© Ullstein Bild - dpa

Charta der deutschen Heimatvertriebenen, 1950

Charta der deutschen Heimatvertriebenen, 1950

© BayHStA SdA Sprecherregistratur Rudolf Lodgman, Nr. 471

Einige Vertriebenenfunktionäre wie der einflussreiche Chef der Sudetendeutschen Landsmannschaft Rudolf Lodgman von Auen unterzeichneten die Charta erst Monate später.

Einige Vertriebenenfunktionäre wie der einflussreiche Chef der Sudetendeutschen Landsmannschaft Rudolf Lodgman von Auen unterzeichneten die Charta erst Monate später. Lodgman hatte Änderungsvorschläge an Linus Kather, den Hauptautor der Charta gesandt, die dieser jedoch nicht berücksichtigte.

© BayHStA SdA Sprecherregistratur Rudolf Lodgman, Nr. 343

Proklamation der Charta

Anschlag des Landesverbands der vertriebenen Deutschen zur Großkundgebung im Hof des Neuen Schlosses in Stuttgart am 6. August 1950.

Anschlag des Landesverbands der vertriebenen Deutschen zur Großkundgebung im Hof des Neuen Schlosses in Stuttgart am 6. August 1950.

© Stadtarchiv Stuttgart

Am 5. und 6. August 1950 wurde der deutschen und internationalen Öffentlichkeit die Charta der deutschen Heimatvertriebenen präsentiert. Das Datum der Proklamation war bewusst gewählt: Es nahm Bezug auf das von den Alliierten fünf Jahre zuvor beschlossene Potsdamer Protokoll, in dem die Vertreibungen der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gebilligt wurden. 

Zeitgleich zu den Stuttgarter Veranstaltungen kam es in mehreren Städten zu den bis dato größten Demonstrationen in der jungen Bundesrepublik. Allein in Stuttgart kamen vor den Trümmern des Neuen Schlosses etwa 150.000 Menschen zusammen.

Der Schlesier Manuel Jordan verlas am 5. August die Charta in Stuttgart-Bad Cannstatt. Am 6. August sprachen Repräsentanten der Vertriebenenverbände. Auch der höchste Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht, Hochkommissar John McCloy, wohnte der Veranstaltung bei. Bundeskanzler Konrad Adenauer war aufgrund von Krankheit verhindert. Vizekanzler Franz Blücher versprach rasche staatliche Unterstützung. Seinen Aufruf zu Geduld quittierte das Stuttgarter Publikum mit lautstarkem Protest. Die Menschen misstrauten seinen Aussagen.

Ansprache des Innenministers von Baden-Württemberg, Fritz Ulrich, vor dem Neuen Schloss in Stuttgart am 6. August 1950.

© Ullstein Bild - dpa

Kundgebung vor dem Neuen Schloss in Stuttgart anlässlich der Bundestagung der deutschen Vertriebenen am 6. August 1950.

© Ullstein Bild - dpa

Teilnehmer der Demonstration auf dem Weg zur Proklamation der Charta der deutschen Heimatvertriebenen auf dem Schlossplatz in Stuttgart am 6. August 1950, im Hintergrund der "Tagblatt-Turm".

© Ullstein Bild - dpa

Kontext und Hintergründe

Die Lage von Millionen Vertriebenen war 1950 noch immer prekär. Im Görlitzer Abkommen vom 6. Juni 1950 erkannte die DDR-Regierung die Oder-Neiße-Linie als "Friedensgrenze" zu Polen an. Ein solcher Weg war in der Bundesrepublik parteiübergreifend indiskutabel.

Die Westalliierten nutzten diesen Streitpunkt im Zuge der sich verhärtenden Fronten des Kalten Kriegs: Sie wiesen auf den in Potsdam proklamierten provisorischen Charakter der deutschen Ostgrenze hin. So sicherten sie sich deutsche Popularität. Die westliche Besatzungsmacht duldete erstmals auch politische Aktivität der Vertriebenen. Diese war ihnen zunächst aus Angst vor Radikalisierung versagt worden. Eine Einheitsorganisation war dementsprechend bis dahin nicht entstanden.

Auch 1950 fanden die verschiedenen Gruppierungen nur schwer zusammen. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen von Zuständigkeiten, politischen Forderungen und Mitteln, um diese Ziele zu erreichen. Folglich sind im Vorfeld verschiedene Erklärungen entworfen worden, u. a. das Göttinger Abkommen, die Eichstätter Adventsdeklaration und die Detmolder Erklärung.

Nach und nach siegte jedoch die Einsicht, dass eine einheitliche Linie vonnöten sei, um mit Erfolg die Eigeninteressen vertreten zu können. Man einigte sich auf wenige grundsätzliche Aussagen, die in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen festgeschrieben wurden.

Zeitgenössische Reaktionen und Presse

Der Proklamation der Charta wurde zeitgenössisch große Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre Bedeutsamkeit zeigte sich nicht nur in der Präsenz hochrangiger internationaler wie deutscher Politiker, sondern auch in einem breiten Presseecho im In- und Ausland.

Die Medien betonten die Benachteiligung der Vertriebenen. Jugendkriminalität und drohende Radikalisierung aufgrund von Arbeitslosigkeit identifizierten sie als Gefahren. Die Schuld an dieser Situation wies die Presse nicht allein dem Kreml, sondern den Alliierten insgesamt zu. Die Erklärung der Charta wurde somit als Appell gedeutet, der über Deutschland hinausging.

Gleichzeitig stellte die Presse mögliche Lösungen des Problems zur Debatte, aus denen eine gewisse Ratlosigkeit sprach. Eine Rückführung in die ehemalige Heimat wurde in diesem Zusammenhang ebenso verworfen wie die Option Auswanderung. Allerdings fasste man das "Recht auf Heimat" auch als "Recht auf eine zweite Heimstatt" auf. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte in diesem Zusammenhang den Minister für Angelegenheiten der Vertriebenen, den Schlesier Hans Lukaschek, der Tag der Heimkehr werde nur dann kommen, wenn die Vertriebenen in der westdeutschen Bevölkerung aufgegangen seien.

© Neue Züricher Zeitung vom 10. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© New York Times vom 6. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Die Welt vom 15. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Die Welt vom 15. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Süddeutsche Zeitung vom 7. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Süddeutsche Zeitung vom 7. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Süddeutsche Zeitung vom 5./6. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

© Süddeutsche Zeitung vom 5./6. August 1950

Zeitungsabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz

Würdigung

Im Rückblick würdigen Historiker und Politiker die Charta primär als klare Absage an radikale Verirrungen. Diese erschien angesichts der Lage der Vertriebenen um 1950 nicht selbstverständlich. Der Wille zu einem geeinten und friedlichen Europa trug zum Ansehen Deutschlands als friedenswillig bei und war ein wichtiges Element für die Westintegration.

Ein ebenso richtungweisendes Signal setzte die Charta in Bezug auf die westdeutsche Gesellschaft: Mit der Forderung nach Gleichberechtigung, Lastenausgleich und Anerkennung des erlittenen Leids sowie der Selbstverpflichtung zu harter Arbeit und Wiederaufbau war die Charta ein Meilenstein der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen.

Heutige Kritiker bemängeln die in der Charta vertretene Formulierung, dass die Heimatvertriebenen sich als vom Leid dieser Zeit am schwersten betroffen fühlten. Diese Aussage muss aus der Zeit heraus verstanden werden.

Die historische Bedeutung der Charta besteht im Grundsatz, dass Vertreibungen generell zu ächten sind und dem artikulierten Willen der Vertriebenen, aktiv am Aufbau Deutschlands und Europas mitzuwirken.

Das von der Künstlerin Ingrid Seddig entworfene Denkmal für die Opfer der Vertreibung

Das von der Künstlerin Ingrid Seddig entworfene Denkmal für die Opfer der Vertreibung wurde im Jahr 1986 in der Gartenanlage beim Kursaal in Stuttgart-Bad Cannstatt errichtet. Der vollständige Text der Charta ist in eine der Bodenplatten eingraviert.

© Toni Oehl

 Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost zum 40-jährigen Jubiläum der Charta der deutschen Heimatvertriebenen mit dem Schlusssatz der Charta von 1950. © Archiv für Philatelie / Professor Fritz Lüdtke

Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost zum 40-jährigen Jubiläum der Charta der deutschen Heimatvertriebenen mit dem Schlusssatz der Charta von 1950.

© Archiv für Philatelie / Professor Fritz Lüdtke

 Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erika Steinbach (MdB) auf dem Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen im Berliner Opernpalais am 16. März 2010. © BPA Bilderdienst, Guido Bergmann

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erika Steinbach (MdB) auf dem Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen im Berliner Opernpalais am 16. März 2010.

© BPA Bilderdienst, Guido Bergmann